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Dr. Daniel Delhaes

6. Empirische Analysen

6.1. Systematik der empirischen Analysen

Die Modelle zur Nachrichtenwerttheorie enden mit der Suche nach den Selektionskriterien der Medien. Sie spüren Kriterien auf, nach denen Medien Nachrichten auswählen. Staab stellt fest, dass es letztlich aber nur ein objektiv zu bewertendes Kriterium gibt: Das der regionalen Bezogenheit, da dies empirisch abgrenzbar sei. Sämtliche anderen Kriterien hätten pseudo-objektiven Charakter.1 Alle Kriterien dienen der Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten der Berichterstattung. Im konkreten Einzelfall ist es aber dennoch nicht möglich zu bestimmen, ob Medien ein Thema aufgreifen und publizieren.

Wichtig für diese Arbeit ist die Tatsache, dass die Selektionsleistung des sozialen Systems Medien sich nicht auf die Funktion „Objektivität“ oder gemäß der Erläuterung in den vorangegangenen Kapiteln „Wahrhaftigkeit“ reduzieren lässt. Vielmehr existiert eine Vielzahl von Restriktionen, die andere Entscheidungen provozieren. Damit entsteht ein hoher Grad an Unwahrscheinlichkeit. Dies bedeutet nicht, dass das Ziel der Objektivität aufgegeben wird. Es ist vielmehr eine Leistung des System, Realität zu konstruieren. Damit ist Willkür ausgeschlossen.

Für diese Arbeit sind die Ermittlung von Selektionskriterien ein Schritt zur Ermittlung der Druckpunkte zwischen den Systemen Medien und Politik. Die Differenz besteht darin, dass es unerheblich ist, worüber Medien wann und warum berichten, sondern das es vielmehr von Interesse sein muss, wann die Themen der Berichterstattung zum einen innerhalb des sozialen Systems Medien (Multiplikatoreffekt) und zum anderen im politischen System anschlussfähig sind (Kontextbezogenheit). Das politische System entscheidet, welche Kommunikation der Medien im eigenen System bearbeitet wird, etwa durch aktuelle Fragestunden oder Bundestagsdebatten, Parteisondersitzungen und so weiter. Es entscheiden darüber, ob die Medien den vielzitierten „Einfluss“ auf die Politik besitzen. Dabei sind es nicht die Medien, einzelne Journalisten oder deren Artikel, die diesen Einfluss ausüben, sondern die Kommunikation und ihre Anschlussfähigkeit in Form eines Druckpunktes, die das politische System in Schwingungen versetzt.

Medien haben ihre eigenen Selektionskriterien, die aber nicht zwangsläufig Resonanz im politischen System erzeugen müssen. Daher ist auch zu vermuten, dass zum einen der „Einfluss“ der Medien in der Bereitstellung von Kommunikation zu sehen ist. Nutzt das politische System dagegen seine klassischen Kommunikationswege unzureichend, so dass sich das System in seiner externen Kommunikation auf ein anderes System, eben das der Medien verlassen muss, dann steigt die Enttäuschung, je weniger die Medien in ihrer Berichterstattung der Logik des politischen Systems folgen und nicht in seinem Sinne kommunizieren. Eine Adaption der Kriterien des politischen Systems ist den Medien aber gar nicht möglich, da Medien eigene Selektionskriterien entwickelt haben und entsprechend darüber entscheiden, worüber sie wie berichten.

Sicherlich steht das politische System vor der Situation, dass die Wahlbevölkerung die Bundespolitik primär über die Medien wahrnimmt. Je mehr Medien existieren und je mehr Medien zur Wissensgenerierung genutzt werden, desto intensiver müssen die politischen Kommunikationswege genutzt werden, um dem Wähler Inhalte zu erklären – nicht zuletzt, weil mit der Zahl der Medien auch die Zahl der thematischen Alternativen steigt. Alternativen, die unter Umständen weit weniger komplex sind, als Politik und so auch mehr Interesse finden.

Mit Blick auf die Medien entsteht ein gegenteiliger Trend, der das politische System in ein Dilemma führen kann, an dem es letztlich die Verantwortung trägt. Für die USA beschreibt Claus Kleber, Studioleiter der ARD in Washington D.C., das Phänomen: „Für den Sprecher des Präsidenten zum Beispiel ist es immer am sinnvollsten, zuerst den AP-Reporter anzurufen. Dann sind die großen Networks dran, je nachdem um welche politische Frage es geht. Im täglichen Washingtoner Geschäft sind wir in dieser Beziehung Second-Hand-Nutzer.“2 Denn Pressesprecher gehen zielgruppenorientiert vor und bedienen nicht zwingend alle Medien.

Ziel der Befragung im Rahmen dieser Arbeit war es daher zu untersuchen, welche Selektionskriterien Medien, Politik und Öffentlichkeitsarbeiter (als Nahtstelle zwischen Politik und Medien) identifizieren. Über die differenzierten Angaben könnten in einem zweiten Schritt Druckpunkte ermittelt werden. Ergebnisse darüber könnten erheblich dazu beitragen, dass Verhältnis von Politik und Medien näher zu beschreiben. Um das Spektrum offen zu halten, wurde entsprechend eine offene Fragestellung gewählt. Aus dieser Motivation heraus wurde in der Zeit vom 1. Mai 2000 bis zum 22. Juni 2001 (in mehreren Blöcken) eine Umfrage auf der politischen Bundesebene durchgeführt. Bundespolitiker, Pressesprecher aller im Bundestag vertretenen Parteien, Pressesprecher der Bundesministerien und relevanter Interessengruppen wie Gewerkschaften und Arbeitgeber sowie Chefredakteure, Berliner Parlamentskorrespondenten und Redakteure überregionaler Medien wurden gebeten, folgende Fragen zu beantworten:

Welche Kriterien sorgen dafür, dass ein Thema von den Medien aufgegriffen wird? (Empfohlen wurde, bis zu zehn Kriterien zu nennen.)

Ist die inhaltliche Tragweite eines Themas ausschlaggebend dafür, dass es Resonanz in den Medien findet? Warum?


Über die erste Frage sollten Erkenntnisse über die Druckpunkte gewonnen werden. Die zweite Frage bezog sich zwar ebenfalls auf die Nachrichtenauswahl. Hierbei aber vornehmlich ermittelt werden, ob das politische System wie auch das Mediensystem Themen nach unterschiedlichen Kriterien bewerten. Anhand der Antworten könnte deutlich werden, ob grundlegende Unterschiede zwischen politischem und medialen System in der Frage existieren, welche Themen kommuniziert werden sollen. Vor allem soll Klarheit darüber geschaffen werden, ob die politisch relevanten Themen und deren Aspekte kommuniziert werden.

Wie sich schon aus dem Umfragezeitraum ergibt, fand die Befragung in der neuen Bundeshauptstadt statt und nicht mehr unter den Arbeitsbedingungen der Bonner Berichterstattung. Das Medien- wie das politische System hatten sich bereits in der Hauptstadt akklimatisiert (der Regierungsumzug fand für alle Beteiligten Mitte bis Ende 1999 statt).

Dies war nicht ohne Bedeutung: Wie sich in Gesprächen mit Korrespondenten bestätigte, fand in der Vergangenheit in Bonn zumindest zum Teil eine Steuerung der Berichterstattung über den Terminplan statt. Da in Bonn weit weniger Verbände und Interessengruppen als in Berlin präsent waren, stand oft im Vorhinein fest, worüber aus der Hauptstadt berichtet wurde. Dies ist in Berlin nicht mehr der Fall. Die Angebote und die Konzentration von Verbänden und Institutionen in der Hauptstadt stellen die Journalisten täglich vor das Problem, mehr Termine ablehnen zu müssen als wahrzunehmen (die Selektionszwänge sind gestiegen). Außerdem arbeiten immer mehr Journalisten in der Hauptstadt (was zu einem verschärften Konkurrenzdruck führt), so dass alteingespielte Regeln zwischen Politikern und Journalisten nicht mehr eingehalten werden.3

„Vor zehn Jahren nahm die Bundespressekonferenz 19 neue Mitglieder auf. Durchschnittsalter: 49. Im Jahr 2000, nach dem Umzug vom Rhein an die Spree, weist die Statistik im November 134 Neuzugänge aus, das Durchschnittsalter liegt bei 38 Jahren. Der Umzug bedeutet einen Generationswechsel - mindestens.“4 Der Druck, exklusiv zu berichten, ist deutlich gestiegen. „Wenn ‚zu viel Nähe’ das bezeichnende Stichwort für die Bonner Politik-Medien-Beziehung war, dann heißen die drei bezeichnenden und folgenreichen Begriffe für Berlin: Tempo, Konkurrenz, Dominanz des Bildes über das Wort.“5 Es stellt sich allerdings die Frage, ob allein der Regierungsumzug verantwortlich dafür ist, dass Politik und Medien anders miteinander umgehen. „Durch den Umzug sind wir mitten im digitalen Medien-Zeitalter gelandet, das in Bonn nur gedämpft zu spüren war. Medien und Politik befinden sich im Umbruch.“6

Die Bundesregierung zumindest hatte ein Kommunikationsproblem, wie allein im Jahr 1999 die Wahlniederlagen von SPD und Grünen offenbarten.7 Die Medien selber selektieren stärker und gezielter in Bezug auf die Anschlussfähigkeit ihrer Berichterstattung. Je mehr Medien auf Exklusivität Wert legen, desto früher werden Themen unter Umständen bearbeitet. Damit wird mehr und mehr der politische Prozess Gegenstand der Berichterstattung. Bundespräsident Johannes Rau stellt dazu fest: „Die Politik muss sich schon überlegen, ob sie den Diskurs öffentlich führen will, und wie sie ihn gestaltet. Für den Gang der Gesetzgebung gibt es ein geregeltes Verfahren, das meiner Meinung nach früher mehr respektiert wurde: Zuerst wurde ein Referentenentwurf zur Diskussion gestellt. Das galt nicht als abgeschlossene Meinung. Darüber wurde debattiert und diskutiert, anschließend entschieden. Wenn aber heute bei bestimmten Themen jede Woche neue Elemente eines derartigen Entwurfes publiziert werden, um neue Nachrichten möglichst exklusiv auf den Markt zu werfen, dann verliert man schnell den Überblick. Die öffentliche Bewertung liegt dann vor der Entscheidung. Dann ist kein Raum mehr für eine ruhige und sachgerechte Entscheidung in den dafür vorgesehenen Gremien.“8

Die Suche nach der „Top-Meldung“ führt dazu, dass Medien noch konsequenter ihrer Systemlogik folgen, um Informationen zu produzieren – und dies schnell. Der Faktor Zeit – entscheidend für das soziale System Medien – hat bereits zu Änderungen im Umgang von Politik und Medien geführt. „Ersten haben wir uns dafür eingesetzt, die Regierungspressekonferenzen neu zu terminieren. Vor allem am Mittwoch, nach der Kabinettsitzung, ist deren Inhalt um 14.30 Uhr bereits allgemein verbreitet.“9 Entsprechend wurden die Regierungspressekonferenzen um eine Stunde vorverlegt. Die Beschleunigung des Umschlags von Informationen führt wechselseitig zu Kritik. „Unserer Klage, dass zu oft nur glatte Oberfläche geboten wird, wurde entgegengehalten [von Seiten der Regierungspressesprecher], dass auch Interesse und Frage-Intensität seitens der Kollegen deutlich nachgelassen hätte.“10

Aufgrund dieses vielschichtigen Wandels war es interessant, Journalisten, Politiker und Pressesprecher in der neuen Umwelt zum Umgang von Politik und Medien zu befragen. Die Antworten und damit die potentiellen Selektionskriterien des sozialen Systems Medien ermöglichen Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen den sozialen Systemen Politik und Medien. Zudem ermöglichen sie Handlungsanweisungen für das politische System: Wie sollte das politische System Themen aufbereiten, um sie über die Medien einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen? Welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, damit ein Thema im Sinne der Politik über die Medien transportiert wird? Sollte Politik überhaupt Themen primär über die Medien transportieren?

6.2. Untersuchungsdesign der Befragung

Insgesamt wurden alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages angeschrieben oder per Mail kontaktiert, ebenso alle Pressesprecher der Bundesministerien, des Bundeskanzleramtes und des Bundespresseamtes. Hinzu kamen die Pressesprecher aller großen Wirtschaftsverbände, der Gewerkschaften und einiger Großunternehmen, die sich in besonderem Maße im politischen Raum bewegen wie etwa das Duale System Deutschland oder die Deutsche Bahn AG. Überdies wurde die Umfrage versandt an politische Korrespondenten in Berlin, an Chefredakteure überregionaler Zeitungen und Redakteure. Insgesamt antworteten 128 Personen: 82 Politiker, 23 Pressesprecher und 24 Journalisten. Im Anschreiben zur Umfrage wurde den Befragten Anonymität zugesichert. Dies geschah, um größtmögliche Freimütigkeit in der Beantwortung der Fragen zu gewährleisten. Infolgedessen können bei der Auswertung der Befragung keine Namen genannt werden. Da es sich bei der Umfrage nicht um einen standardisierten Fragebogen handelte, sondern um eine offene Fragestellung zur freien, unstandardisierten Beantwortung, konnten sowohl quantitative sowie qualitative Schlüsse aus den Aussagen gezogen werden.

Aus den Ergebnissen der Befragung wurde zur Auswertung ein Kriterienkatalog gebildet. Da einzelne Nennungen von Selektionskriterien nur begrifflich, aber nicht inhaltlich von Nennungen anderer Befragten abwichen, wurden einheitliche, übergeordnete Begriffskategorien gebildet. So entstand ein Katalog für die Selektionskriterien der Medien, der im Ergebnis 20 Kriterien umfasste.

Die Antworten auf die zweite Frage reduzierten sich oftmals nicht auf ein klares „Ja“ oder „Nein“. Deshalb wurden noch die Kategorien „Nicht unbedingt“ und „Eher selten“ gebildet. Die erste Kategorie kann dabei auf eine zum „Ja“ tendierende Antwort verstanden werden, die zweite Kategorie als eine Antwort mit Tendenz zu einem „Nein“.

Abbildung 1: Umfragebasis

Medien

Bild; Bild am Sonntag; Business Channel; Financial Times Deutschland; Focus; Frankfurter Allgemeine Zeitung; Frankfurter Rundschau; Generalanzeiger Bonn: Handelsblatt; Rheinischer Merkur; RTL-online; Spiegel; Stern; VWD Nachrichten; Welt am Sonntag; Wirtschaftswoche; Die Woche.

Pressesprecher

Bundeskanzleramt; Bundesministerium - für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit; - für Familie, Senioren und Jugend; - für Gesundheit; - für Verkehr, Bau und Wohnungswesen; - für Wirtschaft und Technologie; - für Bildung und Forschung; - für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft; Bundespresseamt; CDU (Bundespartei); FDP (Bundespartei); SPD (Bundespartei); Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft Deutschland (CDA); Bundesverband der Arbeitgeberverbände (BDA); Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI); Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels (BGA); Bundesverband der Deutschen Elektrizitätswirtschaft (VDEW); Deutsche Bahn AG; Duales System Deutschland; IG Metall; IG Bau

Bundestagsabgeordnete

CDU/CSU (21); SPD (20); Grüne (7); FDP (13); PDS (7).

*darunter vier Fraktionsvorsitzende, ein Bundestagsvizepräsident, ein Parteivorsitzender,
drei Bundesminister a.D., drei Generalsekretäre.



6.3. Untersuchungsdesign der Inhaltsanalyse

In Teil Zwei der empirischen Untersuchung sollen einige in der Umfrage genannte Selektionskriterien näher untersucht und analysiert werden, die nicht nur als Selektionskriterien der Medien relevant sind, sondern als Druckpunkte auch hochgradig für die Anschlussfähigkeit der produzierten Information im politischen System verantwortlich sind und damit die mediale Karriere eines Themas garantieren, das heißt: die längerfristige und intensive Berichterstattung sichern. Als Druckpunkte sind dabei Selektionskriterien zu verstehen, die eine derartige Selektionskraft besitzen, dass sie die Bedeutung anderer Selektionskritierien für das Thema neu sortieren. Sie bilden den Auftakt zu einer Sequenz in der Berichterstattung. Diese sollten dann in einem zweiten Schritt anhand von Inhaltsanalysen im Kontext von politischen Themen, die in den Medien eine „Karriere“ absolviert haben, näher untersucht werden. „Die Inhaltsanalyse ist eine wissenschaftliche Forschungsmethode mit weitgehend standardisierten Anwendungsregeln für die Untersuchung von Mitteilungen im Kommunikationsprozess.“11 Als „Karriere“ ist hierbei zu verstehen, dass Themen über einen längeren Zeitraum die Medien beschäftigen, dass ein Thema etwa mehr als einige Tage die Medien beherrscht. Theoretisch formuliert: Als Themenkarriere kann gelten, wenn sich an eine von den Medien produzierte Kommunikation über einen längeren Zeitraum Kommunikation anschließt, wenn also ein Druckpunkt der Medien letztlich auch als Druckpunkt im politischen oder gar in anderen Systemen betrachtet werden kann und umgekehrt.

Für die Auswahl der jeweiligen Druckpunkte, die dafür sorgen, dass Kommunikation der Medien anschlussfähig an das soziale System Politik ist, entscheidet weniger, wie oft ein Kriterium in der Umfrage genannt wird. Vielmehr geht es darum, die Umfrage zum Ausgangspunkt zu machen, um diverse Druckpunkte ausfindig zu machen, die nicht zwingend mit normativen Kriterien wie „Objektivität“ oder den klassischen Hauptfunktionen der Medien aus Sicht der Politikwissenschaft zusammenhängen. Der Untersuchungszeitraum für mögliche Themenkarrieren erstreckte sich vom 1. Oktober 1998 bis zum 30. Juni 2000. In einem konkreten Fall wurde komparativ Bezug auf Datensätze aus den Jahren 1995, 1996 und 1997 genommen.12

Hierzu dienten Themen, die in den ersten zwei Regierungsjahren der rot-grünen Bundesregierung im politischen System bearbeitet wurden und in den Medien eine große Rolle spielten. Aus den ermittelten 20 Selektionskriterien werden potentielle, für den politikwissenschaftlichen Umgang mit den Medien interessante Druckpunkte gefiltert, die anhand einer Inhaltsanalyse näher untersucht werden. Mittels dieses Verfahren wird versucht, einen Einblick in die Eigenlogik der sozialen Systeme Medien und Politik zu erhalten. So werden Druckpunkte und ihre Wirksamkeit auf einzelne Themen hin untersucht.

Der Begriff „Inhaltsanalyse“ wurde in der deutschsprachigen Forschung als Übersetzung aus dem Amerikanischen übernommen („content analysis“). In Abgrenzung zu anderen denkbaren Interpretationen des Begriffs gilt, dass sich die Inhaltsanalyse auf Kommunikationsinhalte bezieht. So, wie die Systemtheorie beschreibt, dass es zur Kommunikation immer eines Kommunikators sowie eines Rezipienten bedarf, untersucht die Inhaltsanalyse, auf welche Art und Weise Kommunikation des Kommunikators an den Rezipienten weitergereicht wird. Merten berücksichtigt dabei noch den Kontext der Kommunikation: Wer sagt etwas aus, zu wem und in welcher Situation. Folglich definiert er: „Inhaltsanalyse ist eine Methode zur Erhebung sozialer Wirklichkeit, bei der von Merkmalen eines manifesten Textes auf Merkmale eines nichtmanifesten Kontextes geschlossen wird.“13 Früh definiert: „Die Inhaltsanalyse ist eine empirische Methode zur systematischen, intersubjektiv nachvollziehbaren Beschreibung inhaltlicher und formaler Merkmale von Mitteilungen.“14 Als „intersubjektiv-nachvollziehbar“ gilt hierbei, dass sich die Ergebnisse vom analysierenden Subjekt ablösen lassen, also nachvollziehbar und damit für jeden kritisierbar sind. Inhaltsanalysen existieren als Teil der empirischen Sozialforschung in vielfältiger Form. Generell soll diese empirische Untersuchungsform „objektiv in der Weise sein, dass die systematische Zuordnung von Aussageeinheiten zu vorher festgelegten Kategorien von der Person, die die Textdurchsicht und die Zuordnung vornimmt (‚Vercoder‘), unabhängig sein soll; die Resultate der Zuordnung sollen ‚intersubjektiv sein“.15

Die Inhaltsanalyse dieser Arbeit fokussiert sich zunächst auf quantitative Werte. Die dazu verfolgte Untersuchungsfrage lautete: Wie verlief die mediale Karriere ausgewählter politischer Themen und welche Begründung - also welcher Druckpunkt - liegt dem aus Perspektive der Medien zugrunde? Da es sich bei den in dieser Arbeit untersuchten Themen um zentrale Ziele der rot-grünen Koalition handelte, war ein hohes Maß an Kommunikation zwar programmiert. Weshalb aber berichteten Medien über das bestimmte Ereignis in eben der festgestellten Intensität, und welche Aspekte waren dabei besonders bedeutsam?

Um dies herauszufinden, wurden etwa Artikelhäufigkeiten zu bestimmten Themen untersucht. Die Artikelhäufigkeit ist dabei Ausdruck der steigenden und sinkenden Kommunikation in den Medien (der öffentlichen Meinung) zum Thema. Entsprechend wurde jedes untersuchte Thema mit einem Begriff codiert, der als Druckpunkt des Themas gilt und den entsprechenden Kommunikationsbedarf repräsentiert16. Die Codiereinheit war damit inhaltlich-semantischer Natur. Im zweiten Schritt wurde quantitativ ermittelt, was die Medien veranlasste, verstärkt über das jeweilige Thema zu berichten. Dazu wurden die Datenreihen zur Artikelhäufigkeit im Zeitverlauf auf andere Begriffe untersucht, die Rückschlüsse auf die Motivation der Medien zulassen. Es erfolgte demnach eine Wortanalyse, die allerdings nicht in Korrelation zu anderen Worten der entsprechenden Artikel gebracht wird, sondern in Korrelation zu den insgesamt zum jeweiligen Thema existierenden Artikeln. Allein bei der Hervorhebung des einzelnen Druckpunkts wird Bezug auf andere – potentielle – Druckpunkte genommen, um eine positive Korrelation herzustellen.

Die Korrelation „Druckpunkt – Anzahl der Artikel“ verdeutlicht die Fokussierung der Medien auf bestimmte Facetten einer Thematik aus dem politischen System, über die sie berichten. In der Theorie der Inhaltsanalyse werden unter anderem zur Berechnung Wortklassen oder Wörter in Relation zu der Anzahl der Wörter eines Artikels insgesamt in Relation gebracht17, wovon diese Arbeit dahingehend abweicht, dass sie Schlüsse über Artikelhäufigkeiten zieht. So sind Schlüsse zur Interpretation der Medien als Ganzes möglich. Die Ergebnisse werden abgesichert mit einer Darstellung der Berichterstattung zu dem jeweiligen Thema (qualitativer Aspekt).

Da sich die gesamte Arbeit mit der Politik auf Bundesebene beschäftigt, dienten als Quellenmaterial der Inhaltsanalyse überregionale Tages- und Wochenzeitungen. Dazu gehörten:

Abbildung 2: Untersuchte Tages- und Wochenzeitungen

„Bild“

„Die Tageszeitung“ (Taz)

„Handelsblatt“

„Süddeutsche Zeitung“

„Die Woche“

„Der Tagesspiegel“

„Financial Times Deutschland“ 18

„Die Welt“

„Die Zeit“

„Frankfurter Rundschau“

„Neue Zürcher Zeitung“ (Deutschland)

„VDI Nachrichten“



Die Frankfurter Allgemeine Zeitung konnte nicht in die Untersuchung aufgenommen werden, da bei der Recherche die Suchfunktionen der FAZ-Datenbank nicht dem Untersuchungsmuster folgten und daher keine aussagekräftigen Ergebnisse hätten gefunden werden können. Die anderen Untersuchungen erfolgten über die „Genios“-Datenbank für überregionale Tageszeitungen (sie beinhaltete in der Rubrik „überregionale Tages- und Wochenzeitungen“ auch die untypischen VDI-Nachrichten) und über das Online-Archiv des Axel-Springer-Verlages. In einem speziellen Untersuchungsfall wurde Datenmaterial über den „Medientenor“ ermittelt.

Die Inhaltsanalyse erstreckte sich über mehrere Druckpunkte. Zur detaillierten Untersuchung der einzelnen Druckpunkte, die potentiell für Viabilität im politischen System sorgen, wurden in der Öffentlichkeit behandelte Themen der Bundespolitik aus der Zeit vom 1. Oktober 1998 bis zum 30. Juni 2000 ausgewählt. Dieser Zeitraum bildet die erste Hälfte der Legislaturperiode der ersten rot-grünen Bundesregierung ab, nachdem zuvor 16 Jahre lang eine CDU-FDP-Koalition die Regierung gestellt hatte. Der Zeitraum wurde aus mehreren Gründen bewusst gewählt:




Abbildung 3: Ansehen der Politik des Bundeskanzlers

SPD steht voll hinter Schröders Politik:

Ja

Nein

Alle

33 %

59 %

SPD-Anhänger

53 %

43 %

CDU/CSU-Anhänger

22 %

71 %

Grüne-Anhänger

33 %

65 %

FDP-Anhänger

14 %

81 %

PDS-Anhänger

28 %

65 %

Quelle: ZDF-Politbarometer, Dezember 1999.

Gleichzeitig fand sich aber eine Mehrheit in der Bevölkerung, die sich für eine Ausrichtung der SPD hin zur „Mitte“ aussprach. Dies gab dem Parteivorsitzenden und Bundeskanzler entsprechenden Rückhalt und bereitete den linken und rechten Strömungen innerhalb der SPD Probleme.

Abbildung 4: Erwartungen an die SPD

Die SPD sollte sich in Zukunft eher entwickeln ...

10/99

11/99

12/99

zur Mitte hin

54 %

51 %

54 %

nach links

16 %

14 %

13 %

nicht viel ändern

19 %

22 %

22 %

Quelle: ZDF-Politbarometer, Dezember 1999.

Verbreitet galt aber die Auffassung: Würde die SPD auch eine Niederlage bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein hinnehmen müssen, stünde Bundeskanzler Gerhard Schröder innerhalb der SPD zur Disposition. Das politische System war hochgradig sensibilisiert für Kommunikationen im System Medien.